Rick – Retired?
Ich kann nicht glauben, dass Rick in den so genannten „Ruhestand“ geht. Als ich vor wenigen Jahren Max-Kade-Professor in Seattle sein durfte, war er – höchst unruhig – gerade in Neuseeland unterwegs, wo er forschte und arbeitete, aber mit Sabine zwischendurch wohl auch als Naturforscher und Abenteurer aktiv war. Das erste, was ich von ihm in Seattle später in der germanistischen Abteilung sah, war: sein Fahrrad. Es regnete – aber Rick war draußen und drinnen bereits wieder unterwegs, mit dem Fahrrad, im German Department, später dann auch mit uns auf wunderschönen Touren durch Ballard. Rick wird nie in den „Ruhestand“ gehen.
Ich kenne den aktiven Rick schon sehr lange, und zwar lange bevor ich ihm selbst persönlich begegnet bin. Ich selbst war gerade mit meinem Studium in Tübingen fertig, in den späten 1980er Jahren, als ein Buch in der berühmten Tübinger Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ erschien, in englischer Sprache (was für diese und viele germanistischen Buchreihen in Deutschland sehr unüblich war). Ich weiß noch genau, was mir damals durch den Kopf ging: Das muss eine großartige Dissertation sein, wenn sie, aus Amerika kommend, in dieser Reihe erscheint; ich muss es unbedingt lesen, ein neues bahnbrechendes Buch über Kafka!
Es war das Kafka-Buch von Richard T. Gray: „Constructive Destruction“, erschienen 1987 im Niemeyer Verlag. Englischsprachige Texte blieben noch lange Zeit eine Seltenheit in den Tübinger „Studien“; damals dürfte es auch das erste Buch gewesen sein, das vielen in Deutschland eine Ahnung gab von der Produktivität eines im Titel versteckten, bei Kafka selbst schon erkennbaren Programms: „deconstruction“. Rick Gray war vor dreißig Jahren einer der ersten jungen Germanisten aus den USA, die auf ganz neue Weise unsere Aufmerksamkeit auf sich zogen: theoretisch interessiert, theoretisch interessant, höchst originell, immer überraschend. Heute sind die Austauschbeziehungen zwischen der deutschen und amerikanischen Germanistik längst nicht mehr so intensiv. Hoffen wir, dass Rick nicht einer der letzten ist, die als herausragende amerikanische Germanisten wie selbstverständlich immer auch in Deutschland wahrgenommen worden sind. Parallel zu seinen vielen Aufsätzen in den USA erschienen seine frühen Beiträge auch in den wichtigsten deutschen Zeitschriften, darunter in der berühmten, ebenfalls in Tübingen herausgegebenen „Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“. Richard Gray blieb in Tübingen und in der deutschen Germanistik präsent, auch für mich, als Doktorand, als wissenschaftlicher Assistent, als Kollege. Später hat er das Bild der amerikanischen Germanistik für uns deutsche Kolleginnen und Kollegen mit geprägt. So wie damals seine Dissertation in einer germanistischen Reihe in einem deutschen Verlag erschien, so haben seine Bücher über Subjektivität und Physiognomie umgekehrt in der deutschen Germanistik für Aufsehen gesorgt.
Ich war leider nicht mehr in Tübingen, als Rick dort mehrmals Gastprofessor war, aber ich habe ihn immer wieder getroffen. Ich erinnere mich heute noch an die vielen Ecken und Gänge in den Räumen der MLA, wo wir uns begrüßen und austauschen konnten: über neue Trends in der Germanistik auf beiden Kontinenten, über Kolleginnen und Kollegen hier und da. Seit den 1980er Jahren ist Rick für mich ein cornerstone unserer deutsch-amerikanischen Germanistik. Er soll nie müde werden und nie in den Ruhestand gehen.